Ein Tiger kommt zum Tee
- 10. Nov. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Mai
Judith Kerr
© 2012 Judith Kerr, Knesebeck Verlag, Stuttgart

Klasse 1/2
Deutsch
Besonderheit: Kindliche Anarchie at its best
Eine ganze Wasserleitung ausgetrunken! Die Küche verwüstet! Die Speisekammer ausgeräumt! Die halbe!, nein die ganze! Platte mit den Rosinenbrötchen verschlungen! Wohin nur mit all diesen Ungezogenheiten?
Ach, das ist doch alles nicht so schlimm, scheint Judith Kerr in ihrem Kinderbuchklassiker Ein Tiger kommt zum Tee zu sagen, denn die Message kommt ganz still daher in diesem schönen, zeitlosen Buch.
Sophie, mit karierten Strümpfen, Latzkleid und Schleife im Haar, fast ikonisch das bravste Mädchen der Welt, will Tee trinken mit ihrer Mutter, der vergrößerten Kopie ihrer selbst. Der Tisch ist gedeckt und der Tee steht bereit, als es plötzlich an der Tür klingelt. Wer mag das sein? Sophie öffnet: Ein Tiger! Dieser stillt seinen Hunger und seinen Durst – und beides ist gewaltig. Das kleine, brave Mädchen begleitet den Tiger beim Ausräumen von Speisekammer und Kühlschrank, blickt ihn liebevoll an, streichelt das gelb-schwarz-gestreifte Fell. Von Angst keine Spur.
Dann verabschiedet sich der Tiger: „Vielen Dank für das nette Teetrinken. Ich muss jetzt leider gehen“. Sophie und ihre Mutter winken zum Abschied - und weg ist er. Nun wird betrachtet, was der Tiger angerichtet hat. Es gibt kein Abendessen mehr, vor allem nicht für den Vater und Ehemann, der bald nach Hause kommt und etwas Warmes auf dem Tisch erwartet. Und Badewasser für Sophie ist auch nicht übrig.
Dann steht der Vater mit Mantel und Hut in der Wohnungstür. Im Sessel, mit überaus liebem Gesicht, lauscht er der Erzählung von Frau und Tochter. War die Begegnung mit dem Tiger überhaupt real? Vater, Mutter und Tochter beschließen kurzerhand, gemeinsam essen zu gehen. Aneinandergeschmiegt laufen sie durch die Straße, innig und still. Es gibt Würstchen, Pommes und zum Nachtisch Eis. Ein Festessen.
Am nächsten Tag gehen Sophie und ihre Mutter einkaufen. Für sich – und für den Tiger, denn es könnte ja sein, dass er wiederkommt. Doch es bleibt bei dem einen Besuch: „Good-bye, good-bye, good-bye“, flötet der verschmitzt lächelnde Tiger auf der letzten Bilderbuchseite.
Nun könnte man das Buch zuschlagen und sagen: Wie schön. Und am Ende ist alles wieder gut, denn Tiger kommen und Tiger gehen. Wenn, ja wenn da nicht eine leise Trauer in dem Buch mitschwingen würde über einen stillen und gleichzeitig so großen Verlust.
Judith Kerr scheint mit ihrem Buch zu fragen: Ist es nicht eigentlich ganz sympathisch, was der Tiger tut? Tee aus der Kanne zu trinken, das Abendessen wegzufressen und dann ganz einfach zu gehen? Freundlich und radikal den eigenen Wünschen zu folgen? Die Mutter schaut zwar besorgt auf das in der Küche angerichtete Chaos, sagt dann aber ganz ohne Wertung: „Der Tiger hat alles aufgefressen“. Tiefe Bedürfnisse dürfen lustvoll gestillt werden und möglich ist das nur, auch das zeigt das Buch, durch Gelassenheit und elterliches Einverständnis. So wild und frei sind wir nur in der Kindheit und Elternsein heißt auch, dafür zu sorgen, dass diese Lebensglut ein Weilchen bleibt.
Das Buch der britischen Autorin und Illustratorin Judith Kerr, die 1933 mit ihrer jüdischen Familie aus Deutschland flüchten musste, kann sicher auch biographisch gelesen werden. Es wurde 1968 zuerst veröffentlicht und erlebte viele Neuauflagen. An dieser Stelle sei eine Lesart empfohlen, die den Blick auf den kraftvollen und unbeschränkten Kern eines Kindes richtet: Wie wichtig ein solches Buch ist, zeigt manch aktuelles, pädagogisch aufgeladenes Kinderbuch, das kindliche Anarchie sozial begrenzen will, damit die lieben Kleinen tatsächlich lieb und brav werden, groß werden und so bleiben – nur damit die Angst der Erwachsenen Ruhe gibt. Ein Einsatz des Buches in der Grundschule sei nachdrücklich empfohlen.