Ein Freund wie kein anderer
- 13. Sept. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Mai
Oliver Scherz, Illustrationen: Barbara Scholz © 2018 Thienemann Verlag, Stuttgart

Klasse 3/4
Deutsch
Besonderheit: Herausragend erzählt
Kann man eine Coming-of-Age-Geschichte mit einem Erdhörnchen als Protagonisten erzählen? Will heißen: den Pfad der Eltern verlassen, in Gefahr geraten, einen Konflikt lösen, einen Freund finden und am Ende reifer und von den Eltern unabhängig werden?
Oliver Scherz kann. Er hat über diese Selbstfindung ein hinreißendes Buch geschrieben, das an dieser Stelle etwas verspätet gewürdigt werden soll. Habbi, jung, neugierig und, ja, einfach bezaubernd, lebt mit seinen vielen Geschwistern und seinen Eltern im Erdhörnchen-Dorf. Eigentlich könnte alles ganz beschaulich sein: Das Leben richtet sich nach den Jahreszeiten; der Bezugsrahmen ist die eigene Familie. Habbis Vater, das respekt-einflößende Familienoberhaupt, ist im Alltag wenig präsent. Dafür aber Habbis Mutter Hieme, die ihre Kinder vor allem Übel bewahren will. Wie sie das erreichen will? Durch Pflicht und Fürsorge, was, na klar, nicht so ganz klappt. Denn Habbi hat einen eigenen Kopf und vor allem ein eigenes Herz.
Das braucht er, als er eines Tages vom Futterpfad abkommt und auf einen verletzten Wolf stößt. Instinktiv will Habbi flüchten. Hat die Mutter nicht vor all den Gefahren im tiefen, dunklen Wald gewarnt? Doch er entscheidet sich Yaruk zu helfen, so heißt der schon schwermütig gewordene Wolf. „Du darfst nicht liegen bleiben … steh auf!“, fordert Habbi, stiehlt Futter aus dem Erdhörnchen-Wintervorrat und hilft dem Verletzten, ins Leben zurückzufinden. Und spätestens als Habbi den Geretteten mit Geschenken und Geschichten aufzuheitern versucht, taut Yaruk auf. Und vergisst nun seinerseits die Instinkte eines Raubtiers: Er verschont das Erdhörnchen und freundet sich mit ihm an. Gemeinsam erfahren sie, wie schön es ist, jemand ganz anderen kennenzulernen und sich auf ihn einzulassen. Oliver Scherz zeigt mit der Figur von Habbi, dass eine Rettung manchmal nicht deswegen gelingt, weil jemand kraftvoll zupackt. Sie gelingt, weil jemand nicht aufgibt und den Widrigkeiten des Lebens mit unverstellter Freundlichkeit begegnet.
Aber. Natürlich kommt ein Aber. Habbis Sippe erfährt von der ungewöhnlichen Freundschaft und traut dem Frieden nicht: Niemals darf sich ein Wolf mit einem Erdhörnchen anfreunden! Skandal! Wie biedermeierliche Spießbürger rotten sich die bedrohten Waldtiere zusammen und blasen zum Angriff auf den bösen Wolf. Habbis Einwände? Weggewischt vom Mob. Interessant, wie Oliver Scherz hier einerseits der instinktgesteuerten Angst Berechtigung verschafft, andererseits (gestützt durch die Illustrationen von Barbara Scholz) aufzeigt, was Dummheit und Ignoranz anrichten können. Wenn, ja, wenn da nicht jemand eingreift.
Und das tut Habbi. Er stellt sich den wütenden Waldbewohnern in den Weg: „Tut ihm nichts!! Er ist mein Freund!!“ Und wechselt die Seite: Yaruk springt, seinen kleinen Freund auf dem Rücken, über die Schlucht und bringt beide in Sicherheit. Dort können Habbi und Yaruk sich endlich von den Strapazen erholen und zu sich finden. Und dann doch feststellen, dass ein Erdhörnchen ein Erdhörnchen bleibt und einen Winterschlaf machen muss und ein Wolf ein Wolf, der sein Rudel braucht. Habbi entscheidet sich, zu seiner Familie zurückzukehren und auch Yaruk schließt sich wieder seinem Wolfsrudel an. Trotz aller Freundschaft, trotz aller Beschränkungen der jeweiligen Sippe. Beide versprechen, sich im Frühling wiederzusehen. Letztlich ist es Hiemes Beharrlichkeit, die ihren Sohn dazu bewegt, zu ihnen zurückzukehren, denn Tag für Tag hatte sie vom anderen Ende der Schlucht hinübergeschaut, um einen Blick auf Habbi zu erhaschen. Während der Vater in seiner starren Autorität zu keiner Veränderung fähig gewesen war, hatte Hieme Habbis Herz getroffen. Als der verlorene Sohn heimkehrt, wartet sie zunächst die freudige Begrüßung der Geschwister ab und sagt dann: „Danke, dass du zurückgekommen bist, Habbi!“. Sie verzichtet auf Vorwürfe und Wut und erinnert damit an Lottas Eltern in dem Kinderbuchklassiker Lotta zieht um (Astrid Lindgren) oder an die Mutter von Max in Wo die wilden Kerle wohnen (Maurice Sendak). Dem Aufbegehren der Kinder gegen die elterliche Autorität – Lotta zieht wutentbrannt aus dem Elternhaus zur Tante, Max tobt im Wolfskostüm - wird mit Nachsicht begegnet. Am Ende weint Lotta erleichtert im väterlichen Arm, Max bekommt – natürlich! – sein warmes Abendessen. Und Habbi darf heimkehren zu seinen Lieben.
Ein Freund wie kein anderer entfaltet neben der feinsinnig und sprachlich herausragend erzählten Freundschaftsgeschichte eine Welt in der Tradition nordamerikanischer Abenteuergeschichten - mit dunklen Wäldern, reißenden Wasserfällen und wilden Tieren. Geeignet für Vorlesestunden in der Grundschule; die Kinder am besten auf Kunstbärenfell liegend, die Lehrkraft bei Kerzenschein lesend. Und draußen ein kalter Wintertag.
Zum Weiterlesen: Ein Freund wie kein anderer, Band 2: Im Tal der Wölfe (Oliver Scherz, Stuttgart: Thienemann 2020)



